In den klassischen indischen Yoga-Lehren wird die Lebensenergie des Menschen als Prana bezeichnet und diesem Prana werden drei Eigenschaften zugeordnet, die sich im Körper sowie Emotionen, Gedanken und Lebensgewohnheiten ausdrücken können.

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Diese drei Eigenschaften heißen in der Yoga-Sprache „Gunas“ und sie werden bereits in der Bhagavad-Gita erwähnt, dem laut Yoga-Tradition schon 5.000 Jahre alten Kompendium der verschiedenen Zweige der Yoga-Lehre. Ich halte dieses einfache Modell der drei Gunas für zeitlos praktikabel, so dass ich es an dieser Stelle kurz darlegen möchte.

Tamas = Trägheit

Mit dem Begriff „Tamas“ wird die Eigenschaft der Trägheit und Dunkelheit bezeichnet. Eine gewisse Menge Tamas gehört zum biologischen Leben, denn diese Eigenschaft beschreibt auch Zersetzungsprozesse wie den Abbau einer Zelle nach dem Zelltod oder das Verwesen einer Leiche. Doch Tamas als Geisteszustand ist problematisch. Faulheit, Verantwortungslosigkeit, die Schuld bei Anderen suchen und eine Neigung zu Depressionen und starkem Pessimismus gehören zur Tamas-Guna.

Von Tamas geprägt sucht der Geist auch gerne nach oberflächlicher Unterhaltung, Ablenkung bis hin zur Sucht. Das beliebte Wort Aufschieberitis bezeichnet ebenfalls eine typische Tamas– Eigenschaft.

In der Arbeit mit Menschen, die ihre Lebensenergie kultivieren wollen, erlebe ich häufig eine für die Betroffenen nicht leicht zu durchschauende Form von Tamas. Diese äußert sich darin, dass viele Menschen zuerst ein angenehmes Gefühl von Motivation haben wollen, um eine disziplinierte Praxis der Kultivierung zu beginnen. Die Realität ist jedoch die, dass unsere Stimmungslage sich manchmal in Kooperation mit unserer Disziplin befindet und manchmal nicht. Darauf zu warten, dass man sich irgendwann immer danach fühlt, Übungen zu machen, heißt Ausreden für Tamas zu erfinden. Es gibt nicht den Trick, mit dem wir immer unsere Stimmungslage kontrollieren können. Tamas auf gesunde Weise zu überwinden heißt eben oftmals Dinge, die offensichtlich wertvoll sind, einfach zu tun. Sehr häufig verändert sich dann auch die Stimmungslage und zwar aus dem einfachen Grund, dass Disziplinlosigkeit ein Tamas-Zustand ist. Positive Aktivität ist dagegen das Gegenteil von Tamas und hebt diesen Zustand sehr schnell auf. Das gilt natürlich nicht nur für Übungen sondern auch für Hausarbeit und viele andere Dinge des Alltags. Manche Studien zeigen, dass Menschen, die jeden Morgen ihr Bett machen, glücklicher sind und ein geringeres Risiko haben, an Depressionen zu erkranken. Wer morgens schon mal eine Sache erledigt, die mit Ästhetik und Gewissenhaftigkeit zu tun hat, beginnt den Tag mit einer Reduktion von Tamas im eigenen Gemüt, was einen Grundton für den Rest des Tages schaffen kann.

Ein wunderbares Zitat von George Bernhard Shaw zum Thema Tamas:

„Die meisten Menschen sind ein Bündel von Jammern und Wehklagen, weil sich das Universum nicht ausschließlich damit beschäftigt, sie glücklich zu machen.“

Rajas = Leidenschaft

„Rajas“ ist die Qualität von Leidenschaft, Rastlosigkeit, Ehrgeiz und aggressivem Optimismus. Rajas kann einen Menschen in der heutigen, auf Erfolg und Leistung ausgerichteten Welt weit bringen. Doch durch Rajas erreichte Ziele und Erfolge machen nicht nachhaltig glücklich, weil sie Rajas nicht befrieden. Die vielen Menschen, die es in einem Bereich des Lebens an die Spitze schaffen, sei es in der Wirtschaft, Politik, im Sport oder im Showgeschäft und die dann mit Alkohol, Depressionen oder anderen schweren psychischen Problemen zu kämpfen haben, sind ein deutliches Beispiel für die Begrenzung von Rajas.

Recht haben wollen ist eine typische Rajas-Manifestation, die uns das Leben schwer machen. Auf irgendeine Weise Andere dominieren zu wollen und sei es durch so etwas Subtiles wie in einer Diskussion zu „siegen“, ist pures Rajas. In Tamas wird man zum Opfer, in Rajas zum Täter.

Dennoch kann diese Qualität ihren Platz im Leben haben und zwar zur Überwindung von Tamas. Wenn Trägheit in einem Menschen stark ausgeprägt ist, kann Rajas für eine Weile notwendig sein, damit Bewegung und damit auch inneres Wachstum entsteht. Ein interessantes Beispiel für die Überwindung von Tamas durch Rajas habe ich in den USA bei David Goggins erlebt, der sich in einer nicht ganz der Yoga-Lehre entsprechenden Sprache dazu äußert.

Sattva = Ausgeglichenheit

Wenn wir genügend Rajas haben, um Tamas zu überwinden, in die Gänge zu kommen, morgens unser Bett zu machen und den Tag konstruktiv zu gestalten, ohne darüber zu jammern, dass das Universum sich nicht ausschließlich damit beschäftigt, uns glücklich zu machen, können wir Rajas in „Sattva“ umwandeln.

Sattva ist Reinheit, Ausgeglichenheit, Kraft ohne Ehrgeiz, gewaltige innere Stärke ohne den Wunsch, Andere zu dominieren.

In Sattva leben wir die Erkenntnis, dass uns Vergleiche mit Anderen und Ehrgeiz nicht glücklich machen. In Sattva brauchen wir keinen Ehrgeiz, für intensive positive Disziplin, denn Sattva ist aus sich selbst heraus positiv orientiert. Ein Großteil der spirituellen Disziplinen, Achtsamkeitstraining und Meditationstechniken haben einfach das Ziel, aus dem permanent reaktiven Geist des Rajas in die Ruhe des Sattva zu finden. In Sattva erfreut uns die äußere Welt, ohne dass wir dafür starke Reize brauchen. Eine genussvolle Mahlzeit, Vogelgesang, lachende Gesichter und unzählige andere einfache Dinge des Lebens, die unser inneres Reservoir an Freude wiederspiegeln, können wir in Sattva wirklich an uns heran lassen, uns davon berühren lassen.

Sattva braucht auch keinen Optimismus im Sinne von Rajas. Sattva ist eher realistisch, nicht pessimistisch oder optimistisch. In Sattva können wir Freundschaft schließen mit dem, was ist.

Jenseits der Gunas

Jenseits der Eigenschaften der Prana ist die Leere des freien Geisteszustands. Hier beginnen wir, die Gunas zu transzendieren oder genauer zu erkennen, dass unsere wahre Natur jenseits der Gunas liegt. Dafür ist ein Übergewicht an Sattva im Gemüt eine gute Voraussetzung. Eine Handvoll Rajas für den gelegentlichen Tritt den eigenen Hintern und eine Prise Tamas, weil wir nun mal Menschen sind, können ja in der Mixtur enthalten sein. Sattva ist aber die Qualität, die uns in die Weite des offenen Geistes jenseits aller Probleme und Lösungen bringt.

Bild: Photo by Jay Castor on Unsplash

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