Das digitale Zeitalter hat uns dazu erzogen, Dinge als wichtig zu betrachten, die es an sich nicht sind. So können noch so viele Online-Beziehungen schlichtweg keine biologischen Grundbedürfnisse abdecken. Echte Beziehungen hingegen können das sehr wohl. Berührung beispielsweise ist ein wesentliches Element jeder echten Beziehung. Und im digitalen Zeitalter wichtiger als je zuvor.
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Der britische Psychologe Robin Dunbar erforschte in den 1990er-Jahren Gehirnentwicklung und psychische Gesundheit von Primaten und Menschen. Seine Untersuchungen ergaben drei zusammenhängende Ergebnisse von großer Bedeutung:
- Für die Gehirnentwicklung sind vertraute soziale Beziehungen unentbehrlich. Fehlen stabile soziale Beziehungen, in denen Vertrauen entstehen kann, kommt es zu schweren Störungen in den Gehirnfunktionen und damit in der psychischen Gesundheit von Primaten und Menschen.
- Primaten und Menschen sind gleichermaßen fähig, mit maximal 150 Artgenossen soziale Beziehungen aufzubauen. Diese Zahl ist zwar ein Durchschnittswert mit gewissen individuellen Schwankungen, aber dennoch bemerkenswert konstant. Heute spricht man daher auch von der „Dunbar-Zahl“ als fester Größe für die Anzahl von Menschen, mit denen ein Mensch sinnstiftende Beziehungen aufbauen kann. Die Dunbar-Zahl entspricht der Anzahl von Menschen, die in vielen Stammesgemeinschaften von Naturvölkern zusammenleben.
- Entscheidend für die Dunbar-Zahl ist der Faktor „Berührung“. Wenn Menschen in Gruppen bis maximal 150 Mitgliedern zusammenleben, ist körperliche Berührung ein normaler Bestandteil der sozialen Beziehungen. Die Art der Berührung kann je nach Kultur sehr unterschiedlich ausfallen, von einfachen Berührungen mit den Händen zu ausgefalleneren Berührungsritualen. Wenn aber die Dunbar-Zahl überschritten wird, verlagern sich die sozialen Beziehungen viel mehr in den rein kognitiven und sprachlichen Bereich. Und damit beginnen psychische Störungen, die nicht auftreten, solange Menschen Berührung als wesentliches Element ihrer sozialen Beziehungen erleben.
Vom digitalen zurück zum analogen Menschen
Die heutige digitale Kultur reduziert den Menschen weitgehend auf sein audiovisuelles System und seine zehn Finger zum Tippen. Online-Beziehungen können biologische Grundbedürfnisse nicht abdecken, und eine immer größere Anzahl von Freunden oder Followern auf Facebook, Instagram und Co. entfremden den Menschen eher von seinem Körper und dessen Bedürfnissen, als dass sie authentische Bedürfnisse erfüllen. Das digitale Zeitalter hat den Menschen dazu erzogen, Dinge als wichtig zu betrachten, die es an sich nicht sind – wir leben zwar in der Welt der Internet-Algorithmen, haben biologisch und sozial aber viel mehr mit einem Primaten im Dschungel oder den Menschen eines Naturvolks gemeinsam als mit einem Computerprogramm. Gesundheit und Lebensqualität werden sich dem modernen Menschen erst wieder erschließen, wenn die analoge Welt in den eigenen Prioritäten einen höheren Stellenwert einnimmt als die digitale Welt.
Der moderne Mensch ist meistens ausgehungert, was Berührung anbelangt.
Untersuchungen haben ergeben, dass Kellner/innen, die den Gast beim Servieren „aus Versehen“ einmal ganz leicht berühren, ein Drittel mehr Trinkgeld bekommen. Die Geschlechterzugehörigkeit der Gäste spielt dabei keine Rolle. Wieso reagieren Menschen unbewusst derart deutlich und positiv auf eine beiläufige Berührung? Vielleicht deshalb, weil sie nicht satt sind, wenn es um Berührung geht, vielleicht aber auch, weil einfach jede Berührung, die angemessen ist, positive Gefühle auslöst.
Heilende Hände
Wenn sich ein Kind wehgetan hat, wissen Eltern intuitiv, dass die Hände auf die schmerzhafte Stelle zu legen heilsam für ihr Kind ist. Doch Erwachsene vergessen leicht, dass sie das gleiche Bedürfnis haben. In Seminaren werde ich häufig nach Ratschlägen für schmerzende Körperbereiche oder Stellen des Körpers gefragt, in denen es Energieblockaden gibt. Und auch meine Konditionierung lässt mich oft erst einmal in meinen mentalen Archiven nach einer Antwort suchen. Doch immer öfter fällt es mir auch wieder ein … Und ich empfehle dann ganz einfach, dass ein vertrauter Mensch seine Hände auf die entsprechende Stelle des Körpers legt. Es ist immer wieder bewegend zu sehen, wie allein schon dieser Vorschlag Menschen mit einem oft vergessenen Grundbedürfnis in Berührung bringt. (Das Wortspiel hier ist durchaus beabsichtigt!) Häufig ist bei Menschen auf diesen Vorschlag auch eine Art von „Wie kommt es nur, dass ich darauf noch nicht selbst gekommen bin?“-Reaktion zu sehen.
Heilende Hände sind keine besondere Gabe. Wie Untersuchungen von Professor Bengston ergeben haben, ist das einfache Auflegen der Hände auf einen Körperbereich, in dem es einen Tumor gibt, eine Heilmethode, die selbst im Tierversuch bei krebskranken Mäusen erstaunlich effektiv ist. Die tägliche Anwendung und eine Zeitdauer von 20 Minuten sind dabei wichtig, aber die Wirkung entfaltet sich auch dann, wenn Skeptiker, die nicht im Geringsten an einen Heilerfolg glauben, ihre Hände zur Verfügung stellen.
Berührung als Teil des Lebensstils
Berührung mit vertrauten Menschen ist ein unschätzbar kostbarer Bestandteil des eigenen Lebens, aber in der heutigen Zeit muss man sich wahrscheinlich immer wieder daran erinnern. Und es mag sein, dass es nicht immer leicht ist, dem eigenen Bedürfnis nach Berührung Ausdruck zu verleihen. Ich möchte an dieser Stelle dazu ermutigen, es einfach zu tun. Wenn wir besser für unsere biologischen Grundbedürfnisse sorgen, werden wir ja schließlich auch mit großer Wahrscheinlichkeit zu verträglicheren Mitmenschen.
Bild: Bonnie Kittle on Unsplash