In Anschluss an das Thema Normopathie, der pathologischen Anpassung an gesellschaftliche Normen – ohne gesunde Reflektion ihrer Sinnhaftigkeit, möchte ich nun auf ein paar wichtige Prinzipien eingehen, die für uns hilfreich sein können, wenn wir uns von normopathischen Tendenzen in uns selbst befreien wollen.

Lesedauer: 8 Minuten

Gleich zu Anfang hier eine Zusammenfassung dieser Prinzipien:

  1. Probleme in der Gesellschaft werden durch systemische Wahrnehmungs – und Handlungsmuster verursacht.
  2. Die Würde der Menschen, die solche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster z.B. in Autoritätspositionen ausagieren, ist davon völlig unberührt. Wir können Verhalten von Menschen kritisieren, ohne den Menschen weniger Respekt entgegen zu bringen oder ihnen gefühlt einen geringeren Wert zuzuschreiben.
  3. „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“, sagte Gandhi. Wir haben selbst wahrscheinlich unsere eigene Version von dem, was uns in der Welt ungerecht, absurd, destruktiv oder anderweitig falsch vorkommt. Es ist gut, in der Welt aktiv zu werden, um Dinge zu ändern, aber wenn wir nicht gleichzeitig unsere eigene Version destruktiver Muster in uns angehen und bereinigen, werden wir die Welt stellvertretend für unsere inneren Konflikte heilen wollen, was kraftlos und wenig weise ist.

Diese Punkte würde ich gerne an einem gelungenen historischen Beispiel einer gesellschaftlichen Heilung von Normopathie veranschaulichen.

Amazing Grace

Im Jahre 1748 fuhr ein britisches Sklavenschiff mit 400 Sklaven an Bord von Afrika Richtung westindische Inseln, wo sie an Plantagebesitzer verkauft werden sollten. In dieser Zeit war die britische Gesellschaft zutiefst verroht und brutal. Sklaverei war eine völlig akzeptierte Normalität, abgesegnet durch die Anglikanische Kirche. Kinderprostitution war ebenso normal wie öffentliche Hinrichtungen oder das Zerfleischen von Stieren durch darauf abgerichtete Hunde als öffentliche Belustigung. Der Kapitän des Sklavenschiffs, John Newton, machte sich keinerlei Gedanken um die Menschen, die im Schiffsrumpf bei über 40 Grad ohne Toiletten oder jegliche Hygiene untergebracht waren. Üblicherweise starben ein Viertel dieser Menschen bei der Überfahrt und viele weitere wurden, weil sie zu krank waren um noch Geld einzubringen, einfach in Ketten über Bord geworfen. John Newton war ein hartgesottener Veteran des Sklavenhandels, ohne Mitgefühl.  Er war ein Paradebeispiel für verkörperte Normopathie, ein zutiefst lebensfeindlicher Zustand wurde in einer Gesellschaft, die sich für zivilisiert hielt, als normal angesehen.

Doch bei dieser Überfahrt geschah etwas Unvorhergesehenes: Als das Schiff in einen schweren Sturm geriet, wurde John Newton plötzlich klar, dass die Angst die er nun fühlte nicht anders war, als die Angst, die die von ihm transportierten Sklaven ständig fühlten.  Eine plötzliche Welle von Herz-öffnender Gnade überflutete ihn. Jahre später fand er für dieses Erlebnis Ausdruck in dem berühmten Gospelsong „Amazing Grace“, den er verfasste. 

Als der Sturm sich gelegt hatte, kehrte John Newton nach Afrika zurück, ließ die Menschen frei und begann ein neues Leben. Er wurde ein Prediger, kümmerte sich um Waisen und um von der Gesellschaft verstossene Menschen und widmete sein Leben einer tiefen Umwälzung seines eigenen Charakters. Er wurde einer der ersten Kritiker der Sklaverei in Großbritannien, doch sein Mangel an Bildung und gesellschaftlichem Status verhinderte eine breite Wirkung seiner Kritik. Schließlich traf er 1783 auf den jungen, gebildeten William Wilberforce, der bis dahin das hedonistische Leben eines jungen Gentleman mit endlosen Clubbesuchen und Partys führte. In der Begegnung mit John Newton erkannte Wilberforce die Aufgabe seines Lebens: Das Ende der Sklaverei. Er führte fortan ein sehr einfaches Leben von Bescheidenheit und Selbstdisziplin statt ständiger Ausschweifungen. Er nahm sich Zeit für Gebet und Stille und erkannte, dass alle Abscheulichkeiten der Sklaverei auch in ihm in seinen eigenen Schattenseiten ihre Entsprechungen hatten. Als Wilberforce Abgeordneter im Parlament wurde, begann er als begnadeter Redner, die Sklaverei in fesselnden Reden anzuprangern – doch niemals lies er sich dazu hinreißen, die Vertreter der Sklaverei zu beleidigen, eine für britische Parlamentsdebatten sehr ungewöhnliche Form der achtsamen Kommunikation. Gegen großen Widerstand, unter erheblichen persönlichen Opfern und durch seine entwaffnend-respektvolle Art auch seinen Gegnern gegenüber, war Wilberfoce schließlich erfolgreich.

1806 wurde der Sklavenhandel abgeschafft, 1833, wenige Tage vor Wilberforce‘ Tod, wurde die Sklaverei im gesamten britischen Königreich verboten.

John Newton und William Wilberforce erkannten in den Schattenseiten der Befürworter der Sklaverei Muster, die zu kritisieren waren, ohne, dass der Mensch dahinter weniger Würde hatte. Beide waren zutiefst christlich geprägt und die „Amazing Grace“ die John Newton so berührend in Versform zum Ausdruck brachte, war für sie für jeden Menschen gleichermaßen da – John Newton konnte an sich selbst sehr gut erkennen, dass Gnade jeden Menschen einschließt auch ihn, der so lange jedes Mitgefühl und jede Güte in sich erstickt hatte. Vor allem aber waren Newton und Wilberforce sich der Tatsache bewusst, dass sie ihre eigenen Schattenseiten erkennen, akzeptieren und nach und nach auflösen mussten, um in der Welt kraftvoll auf Veränderungen hinarbeiten zu können.

Der Kontrollreflex in der Corona-Krise

Über die absurd anmutenden Maßnahmen der Politik in der Corona-Krise ist bereits viel gesagt worden. Manche Kritiker sehen dahinter böse Absichten, doch ich sehe ebenso die Möglichkeit, dass mit besten Absichten aller Beteiligten absurde, lebensfeindliche Zustände geschaffen werden können, wenn die Absichten auf Vorstellungen beruhen, die dem Leben einfach nicht gerecht werden.

Eine solche Vorstellung ist die Idee von der Kontrolle des Lebens zur maximalen Minimierung aller Risiken.

Wenn ich heute Kinder auf ihrem Fahrrad mit Helm und Knieschonern sehe, bin ich froh, dass ich als Kind noch ohne Schutzkleidung einfach drauflos gefahren bin. Ja, ich habe mir auch mal das Knie aufgeschürft, aber dafür habe ich nicht mit der dauernden Suggestion gelebt, dass Fahrradfahren gefährlich ist. Charles Eisenstein berichtet, wie er als Kind kilometerweit von seinem Zuhause aus die Welt erkundet hat. Als seine Kinder 80 Meter vom Haus entfernt in einer verkehrsberuhigten Zone ohne elterliche Aufsicht spielten, brachte ihm das einen Besuch und schwere Ermahnungen der Polizei und der Kinderschutzbehörde ein.

Wir leben in einer Welt, die die Unwägbarkeit des Lebens, die Sterblichkeit, die Tatsache, dass wir nicht alles kontrollieren, immer weniger aushält.

Menschen müssen in expliziten Patientenverfügungen darum bitten, dass sie nicht mit lebenserhaltenden Maßnahmen gequält werden, wenn sie in einem Zustand sind, in dem jeder Angehörige eines Naturvolkes einem Menschen einfach helfen würde, gut zu sterben, anstatt den absurden Versuch zu machen, Organfunktionen um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Immer wieder wird eine neue Version der Kontrolle über Risiken des Lebens für die Zukunft propagiert, die nicht eintritt, zum Beispiel: 

1971 vertraten Virologen mit voller Überzeugung die Ansicht, dass Krebs durch Viren verursacht wird und dass es bis 1976 eine Impfung gegen Krebs gibt. Im Jahr 2000 würde es dann keine Krebserkrankungen mehr geben.

1985 propagierten Genforscher, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms nicht nur Krebs, Alzheimer, Epilepsie und andere Krankheiten, sondern auch Alkoholismus und deliquentes Verhalten beenden würde, schließlich war ja völlig klar, dass hinter allen Problemen der Menschen immer ein Gen steht, dass man nur entfernen muss. Das menschliche Genom wurde 2003 entschlüsselt, mit der ernüchternden Entdeckung, dass wir Menschen so viele Gene haben, wie Fadenwürmer. Die Komplexität unseres Lebens ist in komplexen Dynamiken begründet, die nicht so einfach entfernt werden können, wie ein Gen mit CRISPR.

Leben birgt Risiken. Sterben werden wir alle

Wenn wir diese Wahrheiten unsichtbar machen wollen, werden wir reale Risiken vergrößern, anstatt sie zu reduzieren. Einsamkeit erhöht das Sterblichkeitsrisiko viel mehr, als jedes Virus, mehr als das Rauchen, mehr sogar als Fettleibigkeit.

Wenn wir aus Angst vor Viren Einsamkeit als Schutz sehen, erhöhen wir als Gesellschaft ein Sterblichkeitsrisiko massiv.

Mit unserem Schutz- und Optimierungswahn haben wir eine Welt geschaffen, in der es inzwischen – im weltweiten Maßstab, inklusive aller politischen Krisenregionen – wahrscheinlicher ist, als Selbstmord zu sterben, als an Krieg und Gewaltverbrechen zusammen genommen!

Ein Leben in Risikominimierung wird steril, lebensfeindlich und so werden wir selbst, individuell, zur größten Gefahr für uns selbst.

Da ich die Weisheiten der Veden schätze, sei an dieser Stelle noch eine Sichtweise aus der vedischen Sicht des Lebens erwähnt: Die Veden beschreiben verschiedene Ebenen der Hölle, die nicht als Orte, sondern als Bewusstseinszustände und ihren Widerspiegelungen in möglichen Gesellschaftsformen zu verstehen sind. Die unterste, übelste, schlimmste Hölle der Veden ist… nein, nicht Dantes Inferno, keine Welt von Feuer und Schwefel, sondern die Welt der perfekten Kontrolle. Alles wird technisch kontrolliert und es geschieht nichts Unvorhergesehenes mehr. Warum ist das die unterste Hölle? Weil kein Wachstum der Seele, keine Erkenntnis, kein Lernen aus Erfahren der vielfältigen Zustände des Lebens stattfindet.

Die Welt der vollendeten Kontrolle wäre die Welt der kompletten Entfremdung von der Natur des Lebens.

Was trage ich davon in mir?

Nun können wir uns natürlich auch immer wieder fragen, inwiefern wir zwanghafte Kontrollmechanismen und den Wunsch nach Berechenbarkeit unseres Lebens in uns tragen. Auch Themen wie gesunde Ernährung, Detox, Meditation, ganzheitliche Heilverfahren können entweder aus innerer Weisheit heraus gewählt werden, um das Leben zu bereichern oder aus Angst vor der Unwägbarkeit des Lebens und aus einem Kontrolle-basierten Wunsch nach Selbstoptimierung. Wir leben in einer Gesellschaft, die im Laufe der Jahre immer mehr Kontrolle als wünschenswert suggeriert und es ist unwahrscheinlich, dass uns das alles nicht beeinflusst hat, so sehr wir uns selbst vielleicht als ganz gar auf alternativen Pfaden wandelnd erleben. 

Wenn ich mich mit gesunder Ernährung beschäftige, bin ich frei von Ängsten, die manchmal in der „Ernährungsszene“ aufkommen? Vielleicht glaube ich nicht an die Gefahren einer Virus-Pandemie, aber wie sieht es mit Parasiten, Gluten, oder anorganischen Mineralien im Trinkwasser aus? Ich kenne Menschen, die zwar die Corona-Panik als völlig überzogen ansehen, aber Anthony Williams Aussagen über Eppstein Barr-Viren machen ihnen Sorgen. Klar, der Mann ist ja auch ein Medium, das muss ja stimmen…

Wenn ich vielleicht in mittlerem oder reiferem Alter bin, kann ich mich dann gut um meine Gesundheit kümmern, ohne die Vergänglichkeit meines Körpers zu verdrängen? Kann ich Frieden mit der körperlichen Sterblichkeit in mir finden?

Ist mir klar, dass mein bestes Wissen über das Leben, Gesundheit, die Psyche, die Natur nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Fülle des Lebens ist? Bin ich mir wirklich bewusst darüber, dass ich das Leben nie in seiner Gesamtheit erkennen, verstehen und damit berechnen kann?

Ja zu diesen Fragen zu sagen, ist leicht, aber wie tief ist dieses Ja in mir lebendig? 

Indem wir selbst unsere Neigungen zu Kontrollreflexen anschauen, können wir hoffentlich die Kraft und das Mitgefühl in uns stärken, etwas Neues in die Welt zu tragen, ohne uns gegenüber Anderen moralisch überlegen zu fühlen. Wie Sri Yukteshwar sagte:

„Wer zu gut für diese Welt ist, ist schon längst in einer anderen.“

Und zu guter Letzt

Die eigene Lebensenergie zu stärken, kann uns helfen, von Kontrollreflexen freier zu werden. Wenn in mir ein Fundament starker, harmonischer Lebensenergie vorhanden ist, werden Ängste geringer, weil das Gehirn und das Unbewusste registrieren, dass ich viel Kraft für die Herausforderungen des Lebens habe und mich nichts so schnell aus der Bahn wirft. Alle innere Arbeit an unseren Wahrnehmungsmuster und alle äußere Arbeit daran, die Welt ein kleines Stück besser zu machen, bauen auf einem starken Fundament auf, wenn wir eine sinnvolle Praxis zu Stärkung unserer Lebensenergie haben. 

Bild: Sam Schooler on Unsplash

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