In den 1950er Jahren wurden die ersten Psychopharmaka mehr oder weniger zufällig entdeckt. Hoffmann La Roche testete ein Mittel gegen Tuberkulose, es wirkte gegen diese Erkrankung zwar nicht, aber die Patienten, die es einnahmen, hatten eine merkwürdig gute Stimmung. So entstand Marsilid, das erste Antidepressivum der modernen Medizin.
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Die Vermarkter von Hoffmann La Roche zögerten, dieses Produkt anzubieten, weil es „nur“ bei einer so seltenen Krankheit wie Depressionen wirkte. Und in der Tat ging man 1958, als Marsilid auf den Markt kam, von weniger als 100 an Depression erkrankten Menschen pro Million Einwohner in westlichen Ländern aus. Meine Großeltern waren damals etwa so alt, wie ich jetzt bin. Sie hatten als Kleinkinder den Ersten Weltkrieg erlebt, später die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg, die Berliner Blockade. Gründe, um depressiv zu werden, gab es für diese Generation wahrlich genug. Warum aber war damals Depression eine seltene Erkrankung und warum haben wir heute eine Epidemie von Depressionen, Burnout und anderen psychischen Erkrankungen?
Sind Depressionen behandlungsbedürftig?
Renommierte Psychiater wie Nathan Kline schrieben noch bis Ende der 1960er Jahre in ihren Veröffentlichungen darüber, dass fast alle Depressionen von allein verschwinden. Phasen der Traurigkeit im Leben waren früher einfach akzeptiert und nicht als behandlungsbedürftiges Problem angesehen. Früher waren manche Menschen schüchtern, heute hat nach Ansicht mancher Psychiater und akademischen Psychologen jeder 12. Deutsche eine soziale Angststörung. Phasen von Traurigkeit, die länger als 14 Tage anhalten, sollen nach Ansicht mancher Fachleute bereits als behandlungsbedürftiges Problem eingeordnet werden. Die Angst, schwere psychische Störungen würden zu leicht übersehen, nahm über die Jahrzehnte immer mehr zu.
Sicherlich kann man auch anerkennen, dass wir heute eine erhöhte Sensitivität für die Psyche der Menschen haben. Vieles, was heutzutage als inakzeptabel gilt, wie physische Gewalt von Männern gegenüber ihren Frauen oder jede Art der Gewalt gegen Kinder, wurde früher mit emotionaler Härte einfach als zum Leben dazugehörig angesehen. Ich sehe aus praktischer Erfahrung auch einen großen Wert darin, Therapie und psychische Prozessarbeit nicht nur als Behandlungswege für schwere Erkrankungen zu betrachten, sondern solche Wege aktiv zur Unterstützung der emotionalen Reife zu nutzen. Diese Anwendung wertvollen psychologischen Wissens und der entsprechenden Methoden hat sicher viel dazu beigetragen, dass wir heutzutage sensitiver gegenüber emotionaler und körperlicher Gewalt sind und unsere Wertvorstellungen eine größere Bejahung des individuellen Lebensausdrucks in sich tragen als früher.
Wir pathologisieren unsere Psyche
Doch die Schattenseite der größeren Sensitivität für die inneren Bewegungen des Menschen ist eine übermäßige Pathologisierung vieler kleiner Schwankungen der Psyche, die einfach zum Leben gehören. Ich sehe hier eine deutliche Parallele zu den bahnbrechenden Erkenntnissen der modernen Hygieneforschung durch Ignaz Semmelweiß und andere Pioniere, die mit ihren Erkenntnissen einen ganz wichtigen Beitrag zur besseren Gesundheit der Menschen leisteten. Doch aus den Erfolgen der Anwendung von Hygiene wurde im Laufe der Zeit ein „Mikrobenwahn“, der durch übertriebene Hygiene massiv zur Vermehrung von Allergien beiträgt und durch exzessiven Gebrauch von Antibiotika Mikroben immer resistenter macht und damit das ursprüngliche Problem vergrößert.
Medikamente, die nicht viel bringen
Vor allem die medikamentöse Behandlung psychischer Probleme ist wahrscheinlich ein Faktor, der in der Summe weitaus mehr psychische Erkrankungen als Nutzen hervorbringt. Ich erwähne diesen Punkt deshalb, weil ich in der Praxis beobachte, dass auch unter Menschen, die sich für ganzheitliche Gesundheitsmethoden interessieren, zunehmend die Tendenz besteht, sich zunächst einmal auf die Empfehlung einzulassen, ein Medikament gegen Depressionen zu nehmen, wenn eine Depression oder ein Burnout diagnostiziert wurde. Besonders beliebt sind ja heutzutage die sog. „SSRIs“ – selektive Serotonin-Aufnahmehemmer. Diese Medikamente sind mitnichten selektiv und die Serotoninhypothese zur Entstehung von Depressionen ist äußerst fraglich – 2009 veröffentlichten dänische Forscher eine Untersuchung, die keinen veränderten Mechanismus der Serotonin-Wiederaufnahme bei Depressionspatienten feststellen konnte.
Finger weg von Prozac!
Die Mutter aller SSRIs, das Medikament Prozac von Elli Lily, wurde in den 1970er Jahren von Ray Fuller entwickelt. Er stellte in seinen ersten Patientenversuchen fest, dass die therapeutische Wirkung äußerst dürftig sei, während die Nebenwirkungen wie Agitiertheit und suizidale Gedanken massiv waren. Später gab es einen Selbstmord bei einer gesunden 19-jährigen Probandin in einer Prozac-Studie und 1989 den Amoklauf eines Patienten, der nach zwei Wochen auf Prozac wahnhaft und aggressiv wurde, sodass sein Psychiater ihm dringend empfahl, das Medikament wieder abzusetzen. Doch der Patient mochte die Stimmung, die er mit diesem Medikament verspürte, um dann zwei Wochen später 12 Menschen und sich selbst zu erschießen.
Die Universität von Yale stellte in einer Studie von 1997 bis 2001, die mit Tausenden von Patienten durchgeführt wurde, fest, dass bei nicht medikamentös behandelten Depressionen 2,5 Prozent der Patienten innerhalb eines Jahres eine bipolare Störung auftritt. Bei medikamentös behandelten Patienten lag die Quote bei 7,7 Prozent, bei mehr als dem Dreifachen. Bipolare Störungen sind eine weitere Epidemie der modernen Psycho-Erkrankungen und mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem erheblichen Teil auf die übertriebene medikamentöse Behandlung anderer Erkrankungen zurückzuführen.
Was sind echte Depressionen?
Viele Menschen setzen sich heutzutage unter einen unnatürlichen Druck, gut drauf sein zu müssen. Wo früher ein Druck der Anpassung an die Gesellschaft bestand, der sich auf Glauben, Wertvorstellungen, Kleidung oder Standesdenken bezog, ist heute das Image des sich selbst optimierenden Menschen, der alles im Griff hat, ein erhebliches Problem. Brechen Menschen aus solchen innere Zwängen aus oder streikt ihr Nervensystem oder ihr Körper generell, ist schnell eine Diagnose wie „Burnout“ oder „Depression“ zur Hand.
Vielleicht sind nicht wenige solcher Fälle einfach gesunde Regulationsmechanismen einer Psyche, die nicht länger einem künstlichen Image hinterherlaufen will. Mit Medikamenten hier in die Gehirnchemie auf eine Weise einzugreifen, die von der Neurowissenschaft noch gar nicht richtig verstanden wird, ist wohl kaum förderlich. Psychotherapie als eine Unterstützung dabei, verdrängte Emotionen im Körper zu spüren und das eigene Leben zu reflektieren, kann sehr unterstützend sein, auch ohne eine Krankheit zu suggerieren, die wie ein Feindbild angesehen wird. Echte Depressionen sind wahrscheinlich nur dann vorhanden, wenn depressive Symptome über viele Monate anhalten. Medikamente mögen im Einzelfall für kurze Zeiträume von maximal drei Monaten zum Stabilisieren, z.B. bei schweren Psychosen einen Platz haben, aber Depressionen mit pharmakologischen Eingriffen zu behandeln macht es den Betroffenen im Laufe der Zeit immer schwerer, aus ihrer Depression herauszuwachsen.
Wir sind kein „Volk der Depressiven“, wie es verschiedene Veröffentlichungen in den Massenmedien in den letzten Jahren suggeriert haben. Wir haben nur vergessen, wie kraftvoll die Ressourcen unserer Psyche und unseres Körpers sind, um Lebenskrisen zu begegnen, Phasen, in denen es uns mal nicht gut geht, zu akzeptieren und mit natürlichen Mitteln wie gesunder Lebensweise, sinnvoller therapeutischer Unterstützung und einer insgesamt bejahenden Lebenshaltung aus den Schwankungen unseres Innenlebens gestärkt hervorzugehen.